Theodor Storm - Der Schimmelreiter

Der Schriftsteller Theodor Storm erzählt eine Geschichte in der Geschichte: Ein Reiter befindet sich in Norddeutschland auf seinem Rückweg in die Stadt und kreuzt auf einem schmalen Weg am Meer einen unheimlichen Reiter. Vom langen Ritt ermüdet steigt er in einem Wirtshaus ab, wo die Männer der lokalen Gemeinde sich eingefunden haben um über den bevorstehenden Sturm zu beraten. Der Reiter berichtet von seiner beunruhigenden Begegnung auf seinem Weg zum Gasthaus, worauf ein alter Schulmeister die Sage vom Schimmelreiter zu erzählen beginnt:
Hauke Haien, ein junger Bursche, der mit seinem Vater zusammenlebt, liegt am liebsten am Meer auf dem aufgeschütteten Schutzwall, dem Deich, und fühlt sich wohl, wenn ihn Wind und Wetter durch die Haare wehen. Er meidet seine Schulkameraden und verbringt seine meiste Zeit alleine am Wasser und beobachtet dabei den Wellengang. Schon früh erkennt er, dass der alte Deich einer gefährlichen Springflut nicht gewachsen ist und beginnt in seiner Kammer Notizen und Berechnungen anzustellen, um den perfekten Deich zu konstruieren. Sein Traum ist es einmal Deichgraf zu werden, um einen sicheren Deich bauen zulassen und so seine Gemeinde für die nächsten hundert Jahre vor dem Wasser zu schützen. Hauke hat als Einzelgänger nicht viele Freunde, doch sein Ehrgeiz, sein klarer Verstand und die Liebe seiner späteren Frau Elke geben ihm die Kraft diesen Kindheitstraum zu verwirklichen. Er trotzt bösen Geredes seiner Widersacher, setzt seinen Willen mit Beharrlichkeit durch und lässt den neuen Deich nach langer, kräftezehrender Arbeit fertig stellen. Viele Jahre später, Hauke ist in der Zwischenzeit Vater eines behinderten Kindes geworden, freut sich aber zusammen mit Elke an seiner Tochter, steht eine gefährliche Springflut bevor und die Schutzwälle drohen zu brechen. In einer dramatischen Schlussszene stürzen seine Familie und danach auch er selbst durch ein schreckliches Unglück ins Meer und ertrinken in den stürmischen Fluten.
Der Schulmeister schliesst die Geschichte, indem er flüstert, der Gast sei eben diesem Gespenst des Schimmelreiters begegnet, der heute noch bei stürmischer See auf den Schutzwällen reitet.
Obwohl das Werk bereits im 19. Jahrhundert geschrieben wurde, hat das Buch bis heute nicht an Faszination verloren. Wer hat als junger Mensch nicht den Wunsch etwas Grossartiges zu Schaffen und dabei sogar Menschenleben zu retten? Wer fühlte sich nicht von seinen Mitschülern stellenweise missverstanden und suchte Trost in der Einsamkeit und in inspirierender Lektüre oder bewegender Musik? Wer glaubte in jungen Jahren nicht an die Liebe, die einen stark macht und die ihn Neid und Missgunst, Intrigen und Hohn ertragen lässt? Obwohl die Geschichte im hohen Norden in einer unwirtlichen Gegend spielt, ein Leben beschriebt, das abhängig von Wind und Gezeiten, von Mühsal und Arbeit gezeichnet ist, obwohl das Buch eine längst vergessene, alte Sprache spricht, wo Leute mit beiden Händen erschaffen, wozu wir heute Maschinen und Computer benutzen, kämpft die Hauptfigur doch mit den selben Problemen, mit denen wir uns auch heute beschäftigen. Darum verstehen wir, was Hauke antreibt, was ihn aufwühlt, denn wir finden alle ein kleines Stück von uns selbst im Schimmelreiter. Die vielen Jahre, welche zwischen seiner Geschichte und unserer liegen, spielen dabei keine Rolle.
Auch sind es doch diese Geschichten, denen wir als Kind beim Lagerfeuer hingekuschelt am liebsten gelauscht haben. Geschichten über seltsame Ereignisse oder Erscheinungen, die sich niemand so richtig erklären kann. Geschichten über Helden, die sich gegen alle Widerstände gestemmt ihr Ziel erreicht und danach auf dramatische Weise alles verloren haben um danach als rastlose Seelen ihr Unwesen zu treiben.
Das Buch ist in einer äusserst bildhaften Erzählweise gehalten. Beim Lesen spürt man den Wind geradezu im Haar, schmeckt man das Salz auf den Lippen und hört man die Wellen an den Schutzwall krachen. Die alte Sprache hindert nicht am Lesen sondern trägt in die Vergangenheit zurück, weit fort von Technologie und Moderne, der wir heute ausgesetzt sind. Theodor Storm erzeugt durch seine Erzählweise eine ungeheure Spannung und Dramatik, der sich keiner entziehen kann und die den Leser bewegen, das Buch bis zum Ende nicht mehr aus der Hand zu geben.

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