Vom Entdecken neuer Welten

Aufgewachsen bin ich als Einzelkind in einem Einfamilienreihenhaus in Münchenstein. Die Erinnerung an meine Grosseltern väterlicherseits verblasste rasch, da sie, als ich fünf Jahre alt war, kurz nacheinander starben. Meinen Grossvater mütterlicherseits kenne ich nur von Fotos, doch mit meiner Grossmutter mütterlicherseits habe ich viel Zeit verbracht. Rückblickend, sie starb vor cirka zehn Jahren, ist es für mich schwierig unser Verhältnis zueinander zu beschreiben; ihre innige Liebe zu mir ist unbestritten, doch in der Zeit, an die ich mich am stärksten an sie erinnern kann, lag ich in ständigem Kampf mit ihr: Ich fühlte mich von ihr eingeengt und nicht als erwachsenen Menschen ernst genommen. Da sowohl meine Mutter als auch mein Vater Einzelkinder sind, beschränkten sich unsere Familienbeziehungen auf ein paar verstreute, aber nicht sehr eng verwandte Personen, zu denen wir nur sporadischen Kontakt pflegten.

Von meiner Freundin bekam ich mit, wie sie sich mit ihrem Bruder stritt oder dass am Sonntag wieder einmal der obligatorische Besuch bei den Grosseltern anstand, auf dessen Ende sie sich jetzt schon freute. Sie erzählte mir, dass sie ihre Cousinen nicht leiden konnte und dass sich ihre Tante vor Jahren mit ihrer Mutter zerstritten hatte, so dass die beiden bis heute kein Wort miteinander mehr wechselten. Bei solchen negativen Schilderungen war ich immer froh, keinen familiären Verpflichtungen nachgehen oder mich mit solchen Familiengeschichten auseinandersetzen zu müssen. Nie vermisste ich es keine Geschwister oder nur eine Grossmutter zu haben. Ich fühlte mich wohl, so wie es war und machte mir nicht sonderlich Gedanken über meine familiären Verhältnisse.

Dann kam der Tag, als ich das Flugzeug bestieg und nach Amerika flog: meine erste grosse Reise ohne Eltern. Ich hatte eine Schule in Boston, im Norden der Vereinigten Staaten, gewählt und sollte während vier Monaten bei einer Gastfamilie in einem kleinen Vorort der Stadt wohnen. Nach langer Reise an der richtigen Adresse angekommen, stellte mir meine Gastmutter Georgette Malouf, Mutter von fünf erwachsenen Kindern, die Familie vor: Da sie kürzlich am Herzen operiert worden war, griff ihr ihre Schwester Jacky etwas unter die Arme, die extra aus dem Libanon hergereist war. Georgette war ursprünglich mit ihrem Mann aus dem Libanon nach Boston geflüchtet, mittlerweile hatten sie sich in Amerika eingelebt und integriert. Ihre Kinder schickte sie zur lokalen Schule und diese wuchsen zweisprachig, englisch und arabisch, auf. Zu Besuch, und nicht nur an meinem Ankunftstag, sonder auch sonst sehr regelmässig in der Woche, war ihre Tochter mit den vier Kindern. Etwas später kamen ihre beiden Söhne Nabil und Joey von der Arbeit nach Hause. Ihre Tochter Nawal lebt mit ihrer Familie in Kanada und ihr Sohn Jeff in San Diego, wo er ein Fitnessstudio betreibt.

Während meiner gesamten Zeit, die ich bei Familie Malouf verbrachte, waren immer Leute im Haus: Familie, Freunde, Verwandte. Während den Sommerferien lebte zusätzlich zur Familie noch die Tochter aus Kanada mit ihren zwei Kindern unter demselben Dach. Wenn ein Fest bevorstand, brutzelten Georgette und Jacky stundenlang in der Küche libanesische Gerichte. Als orthodoxe Christen feierten sie Ostern eine Woche nach den katholischen Feiertagen, wobei sie mich an die Messe und das anschliessende Festessen mitnahmen. An solchen Anlässen wurde eine Mischung aus arabisch und englisch gesprochen und es wurde gelacht und geplaudert. Nie wurde offen gestritten oder böse über Familienmitglieder getratscht. Ich erlebte in dieser Zeit so viel Freude, so viel Wärme, und fühlte mich in der Familie richtig aufgenommen. Ich lernte ein paar Brocken Arabisch, verfiel der Kochkunst der beiden Schwestern und tanzte an den Familienfesten mit.

Vor meiner Reise konnte ich mir nicht vorstellen, wie es ist in einer Grossfamilie aufzuwachsen und von Freunden hatte ich im Zusammenhang mit Familienangelegenheiten nur Negatives gehört. Bei Familie Malouf aber eröffnete sich für mich eine neue Welt - die Welt einer Grossfamilie. Ich fühlte mich so wohl, einen Teil davon zu sein. Von allen Seiten wurde ich mit offenen Armen empfangen und eingeladen.

Wieder zu Hause, zurück bei meiner kleinen Familie, vermisste ich den Rummel, den für Festessen gedeckten Tisch, die vielen, mit Speisen prallgefüllten Schalen, das Geplauder, Gelächter der Freunde und Verwandte. Es war eine andere Welt, in die ich Einblick genossen hatte - eine lebendige, farbige, multikulturelle Welt.

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